Seniorenbeirat der Landeshauptstadt Potsdam Arbeitsgruppe "Zeitzeugen"
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Dr. Edith Gaida Frühe Erfahrungen Im Jahr 1951 besuchte der Präsident der DDR Wilhelm Pieck die LEW (Lokomotivbau Elektrotechnische Werke) „Hans Beimler“ in Hennigsdorf. Diese waren vormals ein Zweigwerk der AEG, das 1947 in einen Volkseigenen Betrieb umgewandelt worden war. In einer großen Werkhalle dieser „Lokschmiede mit Tradition“ sprach Wilhelm Pieck zu den Arbeitern und Angestellten der LEW, um sie zu Höchstleistungen im Dienste der jungen DDR anzuspornen und deren Wirtschaftskraft zu stärken. Damit verbunden war auch der Aufruf, bei der Volksbefragung vom 3.–5. Juni 1951 gegen die Remilitarisierung und für den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland zu stimmen. Ich war zu jener Zeit Schülerin der 3. Klasse der Goetheschule in Hennigsdorf. Wir hatten einen Sprechchor unter dem Titel „Wir Kriegsgeborenen mahnen“ einstudiert. Er sollte dieses Anliegen emotional unterstützen und begann mit den Versen: „Gehetzt von Sirenen und Fliegeralarm, von Bombengedröhn und Motoren, so lagen wir in der Mutter Arm, so wurden wir einst geboren.“ Warum ich mich nach so vielen Jahren an dieses Ereignis so gut erinnere? Das liegt wohl daran, dass ich das in diesen Versen wiedergegebene furchtbare Geschehen selbst genauso, und zwar hautnah, erlebt habe und es mich immer noch belastet. Hautnah – das hat mit der Geschichte der AEG zu tun, in der mein Vater ab 1923 als kaufmännischer Angestellter beschäftigt war. Seit 1938 wohnte dann unsere Familie in der Hennigsdorfer AEG-Siedlung in der Spandauer Allee. Gegenüber von unserem Häuserblock lag das eingezäunte Werksgelände der AEG. Als 1943 die Fliegerangriffe auf Berlin begannen, wurden wir durch den Alarm oft genug aus dem Schlaf gerissen. Wenn das nervtötende Jaulen begann, dann musste es schnell gehen. (Ich kann auch heute keine Sirene hören, ohne eine Gänsehaut zu kriegen.) Meine beiden älteren Schwestern, 4 und 5 Jahre alt, griffen dann zu ihren bereitliegenden kleinen Kissen und rannten die Treppen – wir wohnten im 2. Stock des Mietshauses – hinunter in den Luftschutzkeller. Als Einjährige wurde ich auf einem großen Kopfkissen in den Armen meiner Mutter hinuntergetragen. Und da lagen nun alle Mieter des großen vierstöckigen Hauses auf ihren Matratzen und Decken. Ich hatte meinen Platz zwischen meiner Mutter und meiner Oma, die mich mit ihren Körpern halb bedeckten, um mich zu schützen. Aber noch flogen die Flugzeuge über Hennigsdorf hinweg in Richtung Berlin. Nur eine Bombe traf bereits am 30. Januar 1944 die AEG bei einem Angriff auf die Hauptstadt und ihre Umgebung. Das änderte sich jedoch gegen Kriegsende, denn nun wurde auch Hennigsdorf als wichtiger Industriestandort selbst zum Ziel der Angriffe, in deren Fokus das Stahlwerk und die AEG standen. Letztere hatte sich nämlich auf die Kriegsgüterproduktion (u. a. Leitwerke für die Vernichtungswaffen V1 und V2) verlegt. Mit dem Jahr 1945 beginnen meine frühesten Erinnerungen. Am 18. März 1945 flog die US-Luftwaffe einen Angriff auf die AEG, und am 22. April wurde sie von der Artillerie der Roten Armee beschossen. Im Luftschutzkeller bebten bei jedem Einschlag die Wände und der Kellerboden. Um mich herum hörte ich Jammern, Seufzen, Weinen, wohl auch Beten, ohne selbst die ganzen Schrecken dieser Stunden erfassen zu können. Die Furcht im engen und dunklen Keller wuchs, Panik griff um sich. Ich atmete die Angst der anderen, die ihnen aus allen Poren drang, buchstäblich ein. Mein Vater war in diesen Stunden nicht mit uns im Keller, er war zum Volkssturm eingezogen worden und hatte auch an diesem Tag Einsatz. Wir hatten großes Glück im Unglück: Der Häuserblock in der Spandauer Allee blieb verschont, aber etwa 200 m weiter standen AEG-Gebäude in Flammen. Ich sehe mich auf dem Arm meiner Mutter, die am Wohnzimmerfenster stehend auf die brennenden Gebäude blickt und weint. Ich verstehe nicht, weshalb, denn ich bin von dem grausig-schönen Bild wie gebannt. Mit meinen 3 Jahren kann ich noch nicht ermessen, was die Zerstörung der AEG für Hennigsdorf und seine Einwohner bedeutet. Ich weiß auch nicht, dass mein Vater am Nachmittag dieses 22.4.1945 beim Einsatz des Volkssturms auf dem AEG-Gelände von sowjetischen Soldaten gefangengenommen und im Auftrag des sowjetischen Kommandanten zusammen mit zwei weiteren Volkssturmmännern und einer weißen Fahne zum Bürgermeister von Hennigsdorf entsandt worden ist. Sie sollen ihn zur Übergabe der Stadt bewegen. Auf dem Wege dorthin wird er durch den Splitter einer Infanteriegranate schwer verwundet. In einem Keller der Parkstraße versorgen ihn die Hausbewohner notdürftig, ehe ihm nach zwei Tagen eine Ärztin helfen kann. Sicherlich hat meine Mutter inzwischen Nachricht davon erhalten, und so gelten ihre Tränen auch diesem Unglück… Das ist eine meiner wenigen Erinnerungen an meine Mutter, und zwar eine sehr nachhaltige. Viele der in den Jahren danach von mir gemalten Bilder zeigten brennende Häuser und fallende Bomben (zumindest sollten diese Gebilde, die vom Himmel fielen, Bomben darstellen). Uns blieb nach Kriegsende leider nur noch wenig gemeinsame Zeit mit unserer Mutter: Sie starb 1946 auf schreckliche Weise an den Folgen des Krieges und ließ drei kleine Mädchen zurück. Mein Vater heiratete 1947 ein zweites Mal. Wir bekamen eine neue Mutter, die uns mit all ihrer Kraft und viel Liebe umsorgte. 1949 wurde dann mein Brüderchen geboren, das unsere Eltern und wir drei Schwestern über alles liebten. Ich entwickelte als Siebenjährige regelrecht mütterliche Gefühle und empfand mich als seine Beschützerin. Ihm durfte nichts geschehen, schon gar nicht das, was wir erlebt hatten. Die Furcht davor verfolgte mich ständig. Und damit begann die Zeit meiner schlimmen Alpträume, die mich in vielen Nächten quälten. Es war immer die gleiche Situation: Fliegeralarm. Ich fühle mich für meinen kleinen Bruder verantwortlich und will ihn vor den Bomben retten. Ich renne beim Heulen der Sirenen mit ihm im Kinderwagen durch Hennigsdorf und versuche es bis zur S-BahnÜberführung zu schaffen, die auf meinem Schulweg liegt. Sie erscheint mir als sicherer Zufluchtsort. Nie ist mein Ziel ein Luftschutzkeller! Und meine Kraft reicht nicht mehr, und meine Beine sind wie gelähmt, doch ich muss es schaffen! Immer hoffe ich die rettende Überführung noch in letzter Minute zu erreichen. Es sind nur noch ein paar Meter bis dahin… Das war jedes Mal der Moment, in dem ich weinend erwachte und mich nur schwer wieder beruhigen konnte. Meine größte Angst: Krieg. Mein größter Wunsch: Frieden! Daran hat sich bei mir nichts geändert. Deshalb sprachen mir die letzten Verse des Sprechchors bei der Veranstaltung in den LEW aus vollem Herzen und sind mir unvergesslich geblieben. Sie endeten mit der Aufforderung: „Drum Vater und Mutter, entscheidet euch jetzt! Erhaltet uns den Frieden!“ |
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