Seniorenbeirat der Landeshauptstadt Potsdam Arbeitsgruppe "Zeitzeugen"
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Neuanfang in Potsdam 1978 Als mich mein Direktor im Frühjahr 1978 fragte, ob ich an der Pädagogischen Hochschule in Potsdam arbeiten wolle, sagte ich ohne Zögern zu. Ich hatte jetzt fast sieben Jahre in der Abiturstufe der Gerhart-Hauptmann-Schule in Wernigerode am Harz Englisch und Deutsch unterrichtet, hatte ein Jahr an einer Oberschule in Prag gearbeitet – also Zeit für neue Herausforderungen. Schweren Herzens ließ ich mein zweijähriges Töchterchen in der Obhut meiner Eltern zurück – nur für ein paar Wochen, denn Wohnraum würde so schnell wie möglich zur Verfügung gestellt. Leider gab es keine Definition für „ein paar Wochen“ oder „so schnell wie möglich“. So trat ich meine neue Tätigkeit als Lehrerin im Hochschuldienst im August 1978 an. Der Wohnraum war nichts weiter als ein spärlich möbliertes Zimmer in einem Wohnheim hinter den Communs am Neuen Palais, ein Wohnheim, von den ersten Studenten der Hochschule im Jahr 1949 selbst errichtet. Das Zimmer war geräumig, aber ich musste es mit einer weiteren jungen Lehrerin teilen. Im Nebenzimmer war sogar eine Familie mit einem kleinen Kind untergebracht. Wir drei Frauen begannen unsere Tätigkeit im Bereich der Germanistik. So mussten wir nur die Straße überqueren, um unsere Seminarräume zu erreichen. Ein Vorteil! Wohnheimleben hatten wir längst hinter uns gelassen, aber nun holte es uns wieder ein. Das Zimmer war kalt und dunkel, außer Bett, Schrank, Tisch und Stuhl bot es keinerlei Komfort. Die Toiletten befanden sich am Ende des Korridors, ebenso die Duschräume, in denen es selten warmes Wasser gab, und eine Kochplatte, genannt Teeküche. Wir waren wirklich am Ende der Welt angelangt. Nach Potsdam fuhren tagsüber Busse im Abstand von einer Stunde, aber ab 20 Uhr war Schluss damit. Theater, Kino, Kabarett – auf abendliche Vergnügungen mussten wir verzichten, denn wer läuft schon gern nachts durch den stockdunklen Park Sanssouci. Schließlich erkämpften wir uns wenigstens einen kleinen Fernsehapparat. Im Herbst begannen wir drei Lehrerinnen unseren „richtigen“ Dienst am Institut zur Weiterbildung ausländischer Deutschlehrer. Leider befand es sich in Brandenburg an der Havel und das war mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Morgens gegen sechs Uhr rannten wir bei Wind und Wetter von unserem Wohnheim durch den Park zum Schloss Charlottenhof, wo wir die Straßenbahn in Richtung Hauptbahnhof (Pirschheide) erreichten. Am Bahnhof warteten wir auf den D-Zug aus Berlin, der sich nicht immer an den Fahrplan hielt. Auf dem Vorplatz des Brandenburger Bahnhofs stand die Straßenbahn schon bereit zur Abfahrt. Hatten wir dann unsere Haltestelle erreicht, ging es im Geschwindmarsch weiter zum Institut. Total außer Atem trafen wir genau 7.58 Uhr ein und begannen Punkt 8.00 Uhr mit den Lehrveranstaltungen. Der Stundenplan war zum Glück so gelegt, dass wir nicht an jedem Tag zum Frühsport gezwungen waren. Und dann kam der Winter. In unserem Zimmer gab es keine Heizung, nur in der Ecke einen so genannten Dauerbrandofen. Wer von uns am Montag früh zuerst anreiste, hatte die Aufgabe, diesen Ofen in Gang zu setzen. Die Kohlen lagen in großen Haufen neben dem Wohnheim, wo sich auch die Aschebehälter befanden. Hatte es geschneit – im Winter 1978/79 sehr viel- und die Temperatur blieb viele Tage unter 15 Grad Minus, mussten wir die Kohle zuerst wie im Tagebau „abbauen“. Dann schleppten wir Eimer um Eimer, aber so richtig warm wurde es nie. Die Fahrten nach Brandenburg wuchsen sich zu echten Abenteuern aus. Erreichte man gerade noch die Straßenbahn, hatte der Zug Verspätung. Manchmal standen wir mehrere Stunden auf dem eiskalten Bahnhof, kamen erst gegen Mittag in Brandenburg an und kehrten sofort wieder um. Die junge Familie konnte Ende November aus dem Wohnheim ausziehen in eine Neubauwohnung „Am Stern“. Wir Zurückgebliebenen freuten uns, denn jetzt waren wir an der Reihe mit „ sobald wie möglich“, wir hofften noch vor Weihnachten. Aber nein. Immer wieder wurden wir vertröstet, niemand konnte uns das primitive Wohnheimleben schmackhaft machen. Ständig liefen wir zur Kaderleiterin, die uns mit sorgenvoller Miene empfing und nie gute Nachrichten für uns hatte. Ich wollte endlich meine Tochter bei mir haben und sie nicht nur am Wochenende besuchen. Die viele Fahrerei mit der Bahn, die ständigen Verspätungen, das morgendliche Stapfen durch den tiefen Schnee, der Montag in unserem Eiskeller und die Abgeschiedenheit unserer Behausung, das alles zerrte an unseren Nerven. Wir waren immerhin angestellte Lehrkräfte, aber die meisten Studenten lebten besser als wir, sie hatten wenigstens fern geheizte Zimmer. Der Winter 1978/79 war nicht nur schneereich und kalt, er ließ dem Frühling auch über viele Wochen keine Chance. Aber irgendwann wurde es doch wieder warm und wir brauchten nicht mehr zu heizen. Wir beneideten unsere Kollegin in ihrer Neubauwohnung und hofften, dass „nur ein paar Wochen“ auch für uns vorbei sein würden. Nichts tat sich, leider. Mitte des Jahres fand ich in der Zeitung meiner Heimatstadt zufällig eine Anzeige zu einem Wohnungstausch von Potsdam nach Wernigerode. Ich sah mir die Wohnung gar nicht erst an, rief an und stimmte dem Tausch zu, denn meine gemütliche kleine Mansardenwohnung in Wernigerode hatte ich im letzten Jahr kaum gesehen. So schaffte ich es ohne Unterstützung durch die Hochschule, endlich nach 15 Monaten das Wohnheim zu verlassen. Jetzt schleppte ich gern die Kohlen bis in die vierte Etage des Altbaus, regte mich nicht über den Dreck auf, denn ich wohnte in einem Hinterhaus über einer Kohlenhandlung gegenüber vom RAW (Reichsbahnausbesserungswerk), aus dem Tag und Nacht Ohren betäubender Lärm herüber schallte. Es war ganz egal, dass die Straßenbahn in der Kurve unangenehm quietschte und das gesamte Hinterhaus wackelte, wenn die schweren Laster auf der Straße vorbei fuhren. Ich war einfach nur zufrieden und glücklich, dass ich mein Kind nach Potsdam holen konnte. Meine Mitbewohnerin aus dem Wohnheim aber hatte keine Chance. Ganz allein da draußen, abgeschnitten von der Zivilisation, musste sie noch weitere fünf Jahre ausharren, bis ihr endlich, „so schnell wie möglich“, eine winzige Wohnung Am Schlaatz zur Verfügung gestellt wurde. Ja, für uns war es eine komplizierte und schwierige Zeit, aber wir drei Lehrerinnen im Hochschuldienst haben auch etwas Wichtiges gewonnen: Freundschaft, die bis heute nicht an Intensität, Vertrauen und gemeinsamen Erinnerungen verloren hat. Dr.Ortrud Heßke, Januar 2010 |
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